Zeitempfindung im Jazz


Wenn man im Gespräch mit Menschen, die Jazz nicht mögen, nach den Gründen für ihre Ablehnung fragt, erhält man oft die Antwort: “Die Improvisationen sind immer zu lang!” Interessanterweise wird also nicht die harmonische oder rhythmische Spannung oder die Komplexität der Musik bemängelt, sondern ihre formale Gestaltung, ihr Ablauf in der Zeit. Die Schwierigkeit, die viele Menschen mit dem Hören von Jazz haben, liegt also nicht daran, dass sie die Musik auf einer intellektuellen Ebene nicht verstehen, sondern an einer Unterschiedlichkeit im Erleben von Zeitvorgängen. Grund genug, darüber einmal etwas genauer nachzudenken.

Die europäische Klassik hat dadurch,dass sie notiert und schriftlich festgehalten wird, ein starkes Interesse an der Form der Musik entwickelt. Die Komponisten verwandten einen großen Teil ihrer kreativen Energie darauf, den formalen Ablauf der Musikstücke interessant zu gestalten. Im Laufe der Zeit entwickelten sich dramatische, zielgerichtete Musikformen wie z.B. die Sonatenhaupt- satzform, die Sinfonie und die Oper, die das Musikerleben europäischer Hörer grundlegend beeinflusst haben. Man könnte dies als dramatisches Zeitempfinden bezeichnen.
In einer meistens flachen und banalisierten Form entsprechen auch Schlager und Pop-Musik dieser Form des Musikempfindens. Auch hier bestehen die Kompositionen aus mehreren Formteilen und sie haben einen einfachen Spannungsbogen, der die Stücke über drei Minuten zusammenhält.

Im Jazz dagegen wird der Ablauf der Musik dem Fluss der Improvisation überlassen. Die einfache Anordnung des Stückablaufs (Thema, Soloreihenfolge, Schlussthema) hat im Grunde mehr praktische als künstlerische Bedeutung und hat weder das Ziel noch die Fähigkeit, für den Zuhörer interessant zu sein. Entscheidend für den Zusammenhalt eines Stückes sind ganz andere Dinge, die nicht so eng mit dem Zeitverlauf verknüpft sind: der individuelle Sound der Musiker; die Feinabstimmung des Timings in der Band; die Energie, die beim Zusammenspiel entsteht. Jeder Moment einer Improvisation wird also gleich wichtig. Durch diese Grundvoraussetzungen kann ein improvisiertes Jazzstück sehr lang werden, ohne dass es zu einem starken formalen Einschnitt kommt. Natürlich gibt es auch in einer Improvisation Entwicklungen, den Auf- und Abbau von Spannungsbögen oder Motive, die für einige Zeit verwendet werden. All das ist aber nicht einem zielgerichteten zeitlichen Plan unterworfen, sondern hat in jedem Augenblick seine Berechtigung für sich selbst. Man könnte sagen, dass es im Jazz ein episches Zeitempfinden gibt.

Ein Hörer, der an Musik mit einem dramatischen Zeitempfinden gewöhnt ist und von künstlerisch gestalteter Musik vor allem einen komplexen Ablauf erwartet, wird also von einer Jazzimprovisation enttäuscht sein. Das ist natürlich zunächst einmal nicht das Problem des Improvisators, sondern das des Hörers. Da im Jazz aber die Beziehung zwischen Musikern und Hörern eine besondere Rolle spielt (siehe auch “Jazzmusiker und ihr Publikum”), scheint es mir aber wichtig zu sein, die Gründe für diese Enttäuschung wahrzunehmen. Nur dann kann man deutlich machen, dass das epische, fließende Zeiterleben und auch die langen Zeitdauern zum Wesen der Jazzmusik gehören. Und man kann auf die eigentlich grundlegenden und Zusammenhang stiftenden Eigenschaften des Jazz verweisen: den Sound, das individuelle Timing und das improvisatorische Zusammenspiel in der Band.


Matthias Petzold (September 2000)


 

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